Erzähle ich Kollegen & Vorgesetzten von meiner ADHS-Diagnose?

von Sylvia
Veröffentlicht am: Zuletzt aktualisiert am

Erzähle ich Kollegen & Vorgesetzten von meiner ADHS-Diagnose?

Endlich ist es soweit und Du hast schwarz auf weiß Deine Diagnose. So viele Licher gehen Dir plötzlich auf und so vieles kannst Du Dir nun erklären. Aber Du stehst damit auch schon vor dem nächsten Dilemma: wem erzähle ich es und wem nicht? Werde ich ernst genommen, eventuell sogar ausgelacht oder gar in eine Schublade gesteckt? Hier sind die wichtigsten Überlegungen Dein Arbeitsumfeld betreffend, bevor Du tatsächlich bei Vorgesetzten und Kollegen darüber sprichst.

Der Idealfall – Kollegen & Vorgesetzte zeigen Verständnis für Deine ADHS

Im Idealfall stösst Du auf Verständnis und möglicherweise werden Dir sogar Dinge angeboten, die Deine Produktivität erhöhen und Deine Konzentrationsfähigkeit steigern lassen. Für den Einen bedeutet das geregelte Arbeitszeiten, mit einem bestimmten Kollegen ein Büro zu teilen, für den Anderen Homeoffice, flexible Arbeitszeiten oder ein Einzelbüro. Auch hier sind nicht alle ADHSler gleich und haben nicht dieselben Bedürfnisse. Und mitunter wechseln die Bedürfnisse auch von Tag zu Tag. Und in diesem Szenario nimmt man Rücksicht auf Deine speziellen Bedürfnisse.

Mich persönlich werfen zum Beispiel Unterbrechungen richtig aus der Bahn und ich fange danach jedes Mal komplett von vorne mit meiner Arbeit und meinem Denkprozess an. Für solche Unterbrechungen könnte ich zu Hause meinem Mann manchmal an die Gurgel gehen, wenn er mich wegen eines Scherzes im Satz oder während eines Telefonats unterbricht. Das kostet mich so unglaublich viel Energie. In meinem Job ist es aber an der Tagesordnung, dass ich ständig Dinge, an denen ich arbeite, wieder wegen eines Meetings, eines Anrufs oder der dringenden Frage eines Kollegen unterbrechen muss. Im Job ist mein Energiekontingent am frühen Nachmittag aufgebraucht, in die darauf folgende Zeit bis zum Feierabend stecke ich meine gesamten Reserven und nach der Arbeit bin ich scheintot.

Welche Lösungen könnte es in Deinem Job geben?

Stell Dir also die Frage, wie wahrscheinlich ist es, dass sich an Deiner Job-Situation überhaupt etwas ändern lässt? Möglicherweise ist es langfristig besser am Job selbst etwas zu ändern. Oder eventuell zwei verschiedene Jobs auszuüben? Bevor Du es also laut aussprichst, mach Dir am besten einige Zeit Gedanken über Deine tatsächlichen Bedürfnisse, welche Lösungen sich anbieten könnten und ob diese realistisch umsetzbar wären.

Möglicherweise will man Dir auch entgegenkommen und Dich unterstützen. Ich würde sogar behaupten, dass das gar nicht so selten vorkommt. Aber keiner steckt in Deiner Haut. Und wer kann schon nachvollziehen, wie es ist, sich einerseits auf eine Aufgabe nicht konzentrieren zu können und im nächsten Ausblick eine Mammutaufgabe abzurocken, für die Dein Kollege fünf mal so lange gebraucht hätte. Du kannst Deinem Chef in der Regel ja schlecht sagen, dass Dich viele seiner Aufgaben langweilen. Oder Du aber längst erkannt hast, wie sinnlos sie sind und Du sie deshalb nicht machen kannst. Und ja, wir sprechen von „nicht KÖNNEN“ – nicht von nicht wollen. Wer in aller Welt glaubt Dir das? Vor allem, wenn alle anderen im Team keine Lust auf diese Aufgabe haben, weil sie einfach unliebsam ist.

Eine Gruppe von Kollegen in der Teeküche ihres Unternehmens
Foto: redd f/Unsplash.com

Erst denken, dann sprechen

Du wärst auch jedes Mal aufs Neue in der Situation Dich erneut erklären zu müssen. Also wie gesagt, es kann alles wunderbar klappen. Es kann aber auch schräg ausgehen und darauf möchte ich hinaus – es sollte Dir klar sein, dass Du vorher nicht weisst, wie es wirklich aus geht. Um an dieser Stelle noch einmal kurz aus dem Nähkästchen zu plaudern: natürlich war ich impulsiv. Natürlich habe ich es sofort erzählt. Und ich würde sagen, ich hatte Glück. Zumindest insofern, als dass es mir niemand negativ ausgelegt hat. Und wenn doch, hat man es mich bis heute nicht spüren lassen.

Bringt Offenheit gegenüber Kollegen & Vorgesetzten überhaupt etwas?

Aber ich arbeite und lebe nach dem Takt meines Arbeitgebers, meines Jobs, meiner Kollegen. Ich überschreite Tag für Tag meine persönlichen Grenzen, um im Job zu performen. Richtig gehört: ich überschreite sie jeden einzelnen Tag und ich spüre meine Grenzen inzwischen recht gut. Aber möchte ich diesen Job behalten, muss ich täglich an meine Reserven. Jobwechsel ist in meinem Fall derzeit keine Option – ich mag mein Team, ich bin inzwischen (trotz oder vielleicht gerade wegen der ADHS?) Teamlead, ich verdiene ein gutes Gehalt und über den Arbeitgeber an sich kann ich auch nicht klagen. Mit einem Jobwechsel würde ich einfach nur vom Regen in Traufe kommen. Auch wenn ich das gar nicht so negativ formulieren wollte.

Wie wäre es bei Dir? Im Nachgang betrachtet, hat es mir (noch) nicht geschadet, offen damit umzugehen. Aber es hat mir auch nichts gebracht. Ich mache es genauso wie vorher auch, nur dass ich auch älter werde und meine Kompensationsmechanismen nicht mehr so funktionieren wie mit 30 oder 40 Jahren. Gibt es in Deinem Fall überhaupt Möglichkeiten langfristig etwas an Deinen Arbeitsumständen zu ändern? Wenn nicht, gibt es zunächst auch gar keine Veranlassung Deine ADHS-Diagnose zu thematisieren. Du hast Zeit Dir in Ruhe zu überlegen, was Dir wirklich helfen würde.

Hinweis: Ich bin weder Ärztin noch Therapeutin. Ich teile mein Wissen und meine Erfahrungen mit Dir. Um das nach besten Wissen und Gewissen tun zu können, besuche ich Fortbildungen und Weiterbildungen und recherchiere für meine Beiträge gewissenhaft. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass sich die Studienlage ändert, es unterschiedliche Thesen und Theorien zu einem einzelnen Thema gibt, oder ich möglicherweise sogar einer zweifelhaften Quelle aufgesessen bin. Falls Dir Fehler auffallen oder Du über andere oder aktuellere Quellen verfügst, so schreib mir eine Nachricht und lass es mich gerne wissen!

Denk an die Zukunft

Ein weiterer Punkt, den Du auf jeden Fall bedenken solltest ist, dass Deine Zukunft nicht jetzt statt findet und Du aktuell nicht wissen kannst, ob Dein wohlmeinender Chef und Deine verständnisvollen Kollegen in fünf Jahren noch dieselben sein werden? Zumindest wenn, Du selbst auf Deiner Stelle bleibst oder bleiben möchtest. Was aber bleibt, ist die Information über Dich und Deine ADHS.

Bin ich verpflichtet meinen Arbeitgeber über meine ADHS zu informieren?

Grundsätzlich musst Du Deinen Arbeitgeber nicht informieren. Aber wie immer kann es auch Ausnahmen geben. Jobs, wie zum Beispiel Fluglotse, könnten für Dich als ADHS-Betroffener nicht zugänglich sein, da sie eine hohe Konzentration erfordern. Und zwar eine dauerhafte. Auch eine für eine Beamtenlaufbahn könnte es unter Umständen schwierig werden. Allerdings hängt das wohl auch davon ab, welchen Beruf Du in welchem Bundesland ausüben möchtest. Hier ist aber eher der Umstand bedeutend, dass bei der Lebenszeitverbeamtung auch ein Amtsarzt eingeschaltet ist, der Deinen behandelnden Arzt von der Schweigepflicht entbinden kann.

Informiere ich Kollegen & Vorgesetzte über meine ADHS? – Fazit

Die wichtigste Tatsache, die Du in alle denkbaren Richtungen und Überlegungen mit einbeziehen solltest, ist der Umstand, dass Du Dinge, die Du einmal gesagt hast nie wider zurücknehmen kannst. Und auch wenn Dir dieser Artikel jetzt vielleicht etwas ernüchternd vorkommen mag, er soll lediglich Deine Euphorie etwas bremsen. Bevor Du etwas sagst oder tust, dass Du nicht zurücknehmen kannst. ADHS und Job kann sehr gut funktionieren! Der innere Kritiker, Dein Over-Sharing und Dein Impostor-Syndrom hören das nur nicht so gerne. Daher nur mein Appell an Dich: schau auf Dich und Deine Bedürfnisse, überlege mit Bedacht. Denn Du hast durch Deine ADHS nicht nur Einschränkungen, sondern Du verfügst gleichzeitig auch über wahre Superkräfte! Das sollte sowohl Dir selbst wie auch allen Arbeitgebern da draußen bewusst sein!

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