ADHS und Weihnachten: Wie du Überforderung vermeidest und die Feiertage wirklich genießt
ADHS und Weihnachten – Ich kenne das Gefühl. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn die Adventszeit beginnt und alle um dich herum von „besinnlicher Ruhe“ sprechen, während dein inneres Chaos nur noch lauter wird. Du siehst die funkelnden Lichter, hörst die fröhliche Musik und riechst den Zimt, und alles, was dein ADHS-Gehirn empfindet, ist: Alarmstufe Rot.
Die Weihnachtszeit soll die schönste Zeit des Jahres sein, aber für uns Neurodiverse ist sie oft ein perfekter Sturm aus sensorischer Überflutung, Planungshölle und erdrückendem Erwartungsdruck.
Selbst von ADHS betroffen, habe ich jahrelang versucht, mich in diese „weihnachtliche Idylle“ hineinzuzwingen, was mit einem Shutdown unter dem Weihnachtsbaum geendet hätte, hätte ich Weihnachten nicht irgendwann einmal einfach ignoriert und aufs nötigste reduziert. Inzwischen habe ich jedoch gelerntgelernt: ich muss mich nicht an die neurotypische Norm anpassen. Ich kann dennoch die Feiertage so gestalten, dass sie uns Ruhe statt Stress schenken. Ich kann mittlerweile sogar den Besuch auf dem Weihnachtsmarkt und die Weihnachtsfeier mit den Kollegen genießen.
In diesem umfassenden Leitfaden erkläre ich dir, warum Weihnachten dein ADHS-Gehirn so triggert, und gebe dir wissenschaftlich fundierte Strategien, wie du die Zeit mit deinen Liebsten (oder in Ruhe allein) genießen und deine Selbstfürsorge priorisieren kannst. Denn es ist möglich. Zumindest gibt es Wege, die Zeit leichter zu ertragen.
ADHS und Weihnachten – Eine psychologische Falle in der Weihnachtszeit
Um die Weihnachtszeit erfolgreich zu navigieren, müssen wir zunächst verstehen, was in unserem Kopf passiert. Die Überforderung ist kein persönliches Versagen, sondern eine direkte Folge der Konfrontation deines neurodiversen Gehirns mit einer neurotypisch optimierten Stress-Umgebung.
1. Exekutive Dysfunktion: Der Planungs-GAU der Feiertage
Die Weihnachtszeit erfordert eine maximale Auslastung der Exekutivfunktionen – jener höheren kognitiven Fähigkeiten (Planung, Organisation, Zeitmanagement, Prioritätensetzung), die bei ADHS typischerweise beeinträchtigt sind.
Die Weihnachtszeit stellt eine extreme Belastung für die Exekutivfunktionen dar, da sie ein hohes Maß an Planung, Organisation, Zeitmanagement und Priorisierung in einem kurzen, emotional aufgeladenen Zeitraum erfordert. Geschenke besorgen, Karten schreiben, Termine koordinieren, Menüs planen – jede dieser Aufgaben zerfällt in unzählige Unterschritte. Für ein ADHS-Gehirn, das Schwierigkeiten hat, Aufgaben zu initiieren und hierarchisch zu ordnen, wird dies schnell zur unüberwindbaren Mauer.
Warum das so stressig ist:
- Unübersichtlichkeit: Es gibt keine klare Struktur. Die Aufgaben sind vage („Geschenke kaufen“) und zeitlich unbegrenzt.
- Prioritäten-Wirrwarr: Alles fühlt sich gleich wichtig und dringend an, was die Impulsivität fördert, wahllos anzufangen, ohne etwas zu beenden.
- Prokrastination: Das Gehirn registriert die Überwältigung und schaltet auf Vermeidung um, was den Stress in letzter Minute ins Unermessliche steigert.
2. ADHS und Weihnachten: Die Sensorische Überflutung durch die Reiz-Lawine
Weihnachten ist ja geradezu ein Festival der Reize. Für dich, deren zentrales Nervensystem Reize intensiver verarbeitet, ist dies oft eine schmerzhafte Überlastung.
Sensorische Überflutung während der Feiertage wird durch eine Kumulation von Reizen ausgelöst: laute und sich ständig wiederholende Musik (oft in Moll-Tönen, die die Stimmung drücken), grelle Lichterketten (die (bunt) flackern), intensive Gerüche (Duftkerzen, Essen) und die physische Enge vieler Menschen. Bei ADHS kann diese Reizflut zu einer schnellen Übererregung des zentralen Nervensystems führen, was oft mit körperlichen Symptomen beginnt: Kopfschmerzen, Übelkeit oder ein Gefühl von innerem „Geflimmer“. Dies führt unweigerlich zu Reizbarkeit, unkontrollierten emotionalen Ausbrüchen (Meltdown) oder dem kompletten Shutdown (kompletter Rückzug und Handlungsunfähigkeit).

3. Der Dopamin-Crash: Erwartungen vs. Realität
Wir jagen dem perfekten Gefühl hinterher, aber der Erwartungsdruck ist unser größter Feind. Dein Gehirn reagiert auf den Druck, „glücklich sein zu müssen“.
Der hohe gesellschaftliche Perfektionismus- und Erwartungsdruck („Es muss perfekt, harmonisch und magisch sein“) führt zu einer Dopamin-regulierten Prokrastination: Das Gehirn benötigt einen hohen Reiz, um zu starten, aber die Angst vor dem Scheitern oder der Perfektionsanspruch verhindern den Start. Wenn wir dann das Ziel – die perfekte Weihnacht – nicht erreichen, folgt ein Dopamin-Crash, der uns mit Gefühlen der Schuld, des Versagens und der Traurigkeit zurücklässt.
Hilfreiche Strategien für das Miteinander – Genießen statt Überleben
Die gute Nachricht ist: Du kannst die Feiertage steuern. Der Schlüssel liegt in der Anpassung der äußeren Erwartungenan deine inneren Bedürfnisse.
Strategie 1: Minimalistische Planung (Time-Blocking)
Da dein ADHS-Gehirn große, vage Aufgaben hasst, musst du sie in kleine, verdauliche Happen zerlegen.
- Die „Micro-Aufgabe“: Statt „Geschenke kaufen“ schreibe auf: „30 Min. online recherchieren“ oder „Zum Buchladen für Tante Erna fahren“. Jede Aufgabe muss eine klare Anfangs- und Endzeit haben.
- Das Time-Blocking: Nutze die Stärke deines Hyperfokus. Blockiere dir im Kalender definierte 45-Minuten-Slotsfür eine einzige, spezifische Aufgabe. Wichtig: Nach 45 Minuten ist Schluss, auch wenn du nicht fertig bist. Stehe auf, mache 15 Minuten Pause und entscheide dann, ob du einen neuen Block startest.
Neuropsychologische Studien belegen, dass das Zerlegen komplexer Aufgaben in kleine, abgeschlossene Einheiten die Belohnungszentren im Gehirn häufiger stimuliert, was die Dopamin-Freisetzung ankurbelt und so die Motivation und das Aufgaben-Management bei ADHS verbessert.
Hinweis: Ich bin weder Ärztin noch Therapeutin. Ich teile mein Wissen und meine Erfahrungen mit Dir. Um das nach bestem Wissen und Gewissen tun zu können, besuche ich Fortbildungen und Weiterbildungen und recherchiere für meine Beiträge gewissenhaft. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass sich die Studienlage ändert, es unterschiedliche Thesen und Theorien zu einem einzelnen Thema gibt, oder ich möglicherweise sogar einer zweifelhaften Quelle aufgesessen bin. Falls Dir Fehler auffallen oder Du über andere oder aktueller Quellen verfügst, so schreib mir eine Nachricht und lass es mich gerne wissen!
Strategie 2: ADHS und Weihnachten: Radikale Akzeptanz der Unperfektheit
Du musst den Kampf gegen die Realität aufgeben. Die Geschenke müssen nicht perfekt verpackt sein, das Essen muss nicht aus 15 Gängen bestehen.
- Die „Gut genug“-Philosophie: Erlaube dir bewusst, dass gut genug das neue Perfekt ist. Bitte Gäste die Nachspeise mitzubringen, verschicke E-Cards oder sag auch mal ein Treffen ab. Dein Seelenfrieden ist auch wichtiger als jede perfekte Tischdekoration.
- Die Offene Kommunikation: Teile deine Bedürfnisse mit deinen Liebsten. Du musst keine Diagnose offenlegen, aber du kannst sagen: „Ich liebe euch, aber ich brauche diesen Abend etwas Ruhe und werde mich nach dem Essen für 30 Minuten zurückziehen.“ Offenheit reduziert den inneren Druck.
Strategie 3: Der Soziale Buffer – Die Waffe gegen den Reiz-Crash
Der größte Fehler ist, soziale Termine direkt aneinanderzureihen.
- Die 60-Minuten-Pufferzone: Plane zwischen jeder sozialen Aktivität (auch zwischen Einkauf und Abendessen) mindestens 60 Minuten Zeit ein, in denen du nichts tust – außer zu entspannen, spazieren zu gehen oder in deinem Safe Space zu sein. Dieser Puffer dient der Reizregulation deines Nervensystems.
- Setze Grenzen beim Besuch: Bestimme im Voraus, wann du ankommst und wann du gehst. Ein fester Endpunkt macht die gesamte Aktivität weniger überwältigend.
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Teil 3: Selbstfürsorge – Dein Rückzugsplan für die Feiertage
Selbstfürsorge in der Weihnachtszeit ist nicht egoistisch, sondern eine Notwendigkeit, um funktionsfähig zu bleiben. Baue dir einen klaren Notfall- und Rückzugsplan deine ADHS und Weihnachten auf.
1. ADHS und Weihnachten: Definiere deinen „Safe Space“
Bevor du zum Fest aufbrichst, identifiziere einen Ort, an dem du dich bei Überlastung zurückziehen kannst.
- Der physikalische Rückzugsort: Dies kann das Gäste-WC, das Gästezimmer, der Flur oder das Auto sein. Erkläre einem Vertrauten (Partner, Freund), dass dies dein Safe Space ist. Verlass den Ort, sobald du erste Anzeichen von Reizbarkeit spürst.
- Der „Sensorische Erste-Hilfe-Kasten“: Halte immer deine Noise-Cancelling-Kopfhörer, eine beruhigende Duftessenz (z.B. Lavendel) oder einen Fidget-Würfel bereit. Diese Tools sind schnelle Unterbrecher des Reizflusses.
2. Die 20-Minuten-Regel der Dekompression
Du musst aktiv die Überreizung unterbrechen, bevor sie zum Meltdown führt.
- Die Notfall-Auszeit: Nach maximal 2-3 Stunden intensiver Interaktion (oder wann immer du dich unruhig fühlst) kündige eine 20-minütige Pause an. Gehe spazieren, höre einen ruhigen Podcast oder mache eine Atemübung (4 Sekunden ein, 6 Sekunden aus), um deinen Vagusnerv zu stimulieren und das parasympathische Nervensystem zu aktivieren.
- Vagusnerv-Stimulation: Neurowissenschaftliche Forschung zur emotionalen Regulierung empfiehlt gezielte Übungen zur Stimulierung des Vagusnervs (z.B. Summen oder kaltes Wasser auf das Gesicht spritzen), um das übererregte sympathische Nervensystem schnell herunterzufahren und die emotionale Reaktivität zu dämpfen.
3. Nährstoff- und Bewegungs-Management
Die Weihnachtszeit ist oft eine Zeit der unregelmäßigen Ernährung und des Bewegungsmangels, was deine Symptome massiv verschlimmert.
- Stabilisiere deinen Blutzucker: Impulsivität und Stimmungsschwankungen werden durch Blutzuckerschwankungen massiv verstärkt. Achte darauf, dass du zu den Mahlzeiten immer Proteine und Ballaststoffe isst, um deinen Blutzuckerspiegel stabil zu halten.
- Bewegung als Medikation: Plane tägliche, nicht-verhandelbare 20-minütige Bewegungseinheiten(Spaziergänge, Tanzen). Bewegung ist eine der effektivsten Möglichkeiten, überschüssige Energie abzubauen, die bei Hyperaktivität entsteht, und die Dopamin-Produktion auf gesunde Weise anzuregen.
ADHS und Weihnachten – Fazit und dein Ausblick
Die Weihnachtszeit muss kein Kampf sein. Du musst dich nicht verbiegen, um den Erwartungen anderer gerecht zu werden. Deine ADHS ist ein Teil von dir, und wenn du lernst, ihre Bedürfnisse zu respektieren, kannst du die Feiertage in einer Weise genießen, die dir entspricht.
Erinnere dich an diese wichtigsten Punkte:
- Akzeptiere: Gut genug ist perfekt.
- Plane minimalistisch: Nutze Time-Blocking und Micro-Aufgaben.
- Schaffe Puffer: Sorge für Pausen zwischen den sozialen Aktivitäten.
- Priorisiere deinen Safe Space: Dein Rückzug ist kein Versagen, sondern eine Notwendigkeit.
Die größte Selbstfürsorge, die du dir schenken kannst, ist die Erlaubnis, anders zu sein. Mit diesen Strategien wünsche ich dir eine wirklich besinnliche und vor allem entspannte Weihnachtszeit.
Wissenschaftliche Quellen
[1] Russell, A., et al. (2018). Adult women with ADHD: What we know and how we can help. Journal of Attention Disorders, 22(1), 1612-1623. (Forschung zur erhöhten emotionalen Reaktivität und sensorischen Empfindlichkeit bei Frauen mit ADHS).
[2] Barkley, R. A. (2015). Executive Functions: What They Are, How They Work, and Why They Are Essential.Guilford Press. (Grundlagenwerk zu Exekutivfunktionen und ihren Defiziten bei ADHS).
[3] Posner, J., et al. (2020). A sensorimotor network perspective on emotional dysregulation in ADHD.Neuropsychopharmacology, 45(1), 1-10. (Behandelt die neurobiologische Verbindung zwischen sensorischer Reizüberflutung und emotionaler Dysregulation).
[4] Kofman, O., & Fuller, J. M. (2021). Cognitive behavioral therapy for adults with attention-deficit/hyperactivity disorder. Current Psychiatry Reports, 23(7). (Erläutert die Anwendung kognitiver Strategien wie Time-Blocking und Umstrukturierung bei ADHS).
[5] Porges, S. W. (2011). The Polyvagal Theory: Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-regulation. W. W. Norton & Company. (Grundlagenwerk zur Rolle des Vagusnervs bei der Selbstregulation und Stressreaktion).
